Zahlreiche Innovationen über drei Generationen prägen Gesellschafts- und Wirtschaftsleben – Entwicklungssprünge bei Unterhaltung und Kommunikation

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100 Jahre Elektrifizierung im Vogelsberg – 100 Jahre Rundfunk

Das Lauterbacher Elektrizitätswerk zu Anfang der 1900er Jahre. Fotoclub Lauterbach/Repro: Winterholler

LAUTERBACH. Zu Anfang der 1870er Jahre – also nach der Gründung des zweiten Deutschen Reiches – gab es hierzulande einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung, der sich über gut 40 Jahre hinzog. Schließlich beendete der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918) und die damit einhergehende Notzeit die sich verbessernden Lebensbedingungen der Bevölkerung allerdings abrupt. Besonders die Anwendung des elektrischen Stroms nach 1900 in unserer Region erbrachte bis dahin ungeahnte Möglichkeiten in allen Lebensbereichen. Die Erfindung der Glühbirne im Jahr 1879 tat ein Übriges, um Strom nutzbar zu machen. Alle Privathaushalte, Handwerksbetriebe, Landwirtschaft und Industrie verfügten nun über neue gewaltige Möglichkeiten. Kleinunternehmer wie Bäcker, Maurer, Metzger, Schreiner, Zimmerer, Drucker, Schlosser – um nur einige zu nennen – erfuhren eine imposante Vereinfachung ihrer Arbeitsabläufe, die zuvor oft nur mit purer Muskelkraft zu bewältigen waren. Lauterbacher Geschäfte und Hotels warben damals – wohl nicht ohne Stolz – in ihren Annoncen unter anderem mit dem Hinweis „elektrisches Licht“ oder „elektrischer Betrieb”. 

Nicht zu vergessen sei hier auch die Bedeutung der elektrischen Energie für die Landwirtschaft. Neue Erfindungen wie Melkmaschinen, Heugebläse, Dreschmaschinen – obwohl diese schon zuvor mit Dampfmaschinen oder auch mit einem Traktor (Lanz „Dreschbulldog“) mittels Schwungscheibe und Treibriemen zum Laufen gebracht wurden – erleichterten die Arbeit immens und brachten eine Ausweitung der Leistungen mit sich.

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Alexander Stöpler war während der großen Erneuerungen und Modernisierungen Bürgermeister seiner Vaterstadt Lauterbach von 1887 bis 1922. Fotoclub Lauterbach/Repro: Winterholler

In Lauterbach wurde bereits im Jahr 1900 ein Elektrizitätswerk in Betrieb genommen. Das war für die damalige Zeit schon eine ziemliche Investition, die für die Stadt nicht einfach zu stemmen war. Der damals sehr rührige und tatkräftige Bürgermeister Alexander Stöpler hatte hier das richtige Ziel vor Augen: nämlich das Vogelsbergstädtchen fit für die sich verändernden Zeiten zu machen. Neben der Versorgung mit elektrischem Strom wurde ebenfalls zu Anfang 1900 auch die Wasserversorgung für alle Haushalte erneuert.

Mit der Einführung des Stromes mussten die Lauterbacher aber auch von alt hergebrachten Traditionen Abschied nehmen, da seit dem 1. Januar 1889 der uralte Brauch, die Nachtstunden durch den Wächter verkünden zu lassen, sein Ende gefunden hatte. Der Lauterbacher Anzeiger schrieb damals hierzu: „Viele namentlich älterer Bewohner mögen die gewohnten nächtlichen Töne für den Anfang ungern vermissen, die meisten dagegen werden dieselben gern entbehren, und namentlich Fremde werden angenehm überrascht sein, dass man sich, wie längst anderwärts, entschlossen hat, die schlafvertreibende nächtliche Musik abzuschaffen.”

„Die Lügen elektrisch gedruckt. Lauterbach hat alles elektrisch.”

Federführend bei der ganzen Modernisierung in Lauterbach war der Bürgermeister Alexander Stöpler, der das Amt des Stadtoberhauptes von 1887 bis 1922 ausübte. Aber er war nicht nur in unserer Gegend wohl bekannt und meist auch beliebt! Nein, auch im Hohen Vogelsberg und bis in die Wetterau hinab eilte ihm sein guter Ruf als Erneuerer voraus. So wurde er 1908 nach Schotten eingeladen, um über die Vorzüge der Elektrifizierung und den Neubau der Kanalisation sowie weiterer Errungenschaften in Lauterbach zu berichten. Am 25. Februar 1908 berichtete das „Schottener Kreisblatt“ über den Vortrag von Stöpler: „Der Redner führte die Beispiele seiner Heimatstadt an, die ersehen lassen, welche Fortschritte die Industrie in Lauterbach gemacht hat, die kleinsten Betriebe jedweder Branche arbeiten mit Elektromotoren. Wenn durch Druck auf den Knopf auf einmal die ganze Straßenbeleuchtung hergestellt ist, so ist das eine angenehme Sache und Petroleum auf Gemeindekosten in den Laternen des Laternenwächters gibt es nicht, eine Wasserversorgung mit elektrischem selbstständigem Pumpwerk, elektrisch gebügelte Stehkragen, elektrisch gekochter Tee und Mahlzeiten, elektrisch gefüllte Blasebälge der Kirchenorgel, die Lügen elektrisch gedruckt – Lauterbach hat alles elektrisch!“ Soweit das Schottener Lokalblatt mit süffisantem Unterton.

Ein Arbeiter verdiente zur damaligen Zeit etwa 150 Mark im Monat und der Bau eines Fachwerkhauses kostet zirka 10.000 Mark. Die Kosten für das Elektrizitätswerk in Lauterbach betrugen 110.000 Mark. Das Gebäude wurde „Hinter dem Spittel“ errichtet. Über die Leistung dieser neuen Anlage berichtete der Lauterbacher Anzeiger: „Die Betriebskraft wird durch zwei Dampfkessel von je 40 Quadratmeter Heizfläche und einer Dampfmaschine von 70 Pferdestärken geliefert, wodurch ein Dynamo von 45 Kilowatt angetrieben wird.“ Für die Beleuchtung wurden den Kunden zehn Pfennig je „Ampérstunde“ – wie es damals hieß – berechnet. Als Umrechnungsverhältnis wurden später für eine Kilowattstunde 4,5 Ampérstunden festgelegt. Großen Wert legte man auch auf die Feststellung, dass sich sowohl Wasser- wie auch Elektrizitätswerk selbst tragen sollten. Es war demnach kein Geschäftsmodell mit größeren Gewinnspannen beabsichtigt.

Als fast alle Leitungen verlegt und sowohl die Lampen, wie auch die einzelnen Häuser angeschlossen waren, erstrahlte endlich am 23. August 1900 die erste Straßenbeleuchtung in Lauterbach. Um nicht unnötig Strom zu verbrauchen, legte die Verwaltung fest, dass die Straßenbeleuchtung von sechs Uhr morgens bis zum Tageseinbruch brennen sollte. In den Nachtstunden brannten die Lampen bis Mitternacht.

Nachdem sich das städtische Elektrizitätswerk in Lauterbach etabliert hatte, bot dies den Bürgern weitreichende Leistungen an. Der Anzeiger berichtete dazu 1901: „Das städtische Elektrizitätswerk ist bereit, falls anlässlich von Vereins- oder Familienfesten oder sonstigen privaten Anlässen die Einschaltung der Straßenbeleuchtung in den Stunden nach Mitternacht gewünscht wird, dem gegen Entrichtung folgender Gebühr zu entsprechen: Einschaltung der ganzen Lampen (142 Stück) für 5,00 Mark für jede angefangene Stunde, der Nachtlampen (60 Stück) für 2,00 Mark für jede angefangene Stunde, wozu noch das Ein- und Ausschalten mit je 50 Pfennig kommt. Bestellung ist an den Herrn Betriebsleiter Gerlach zu richten. Lauterbach, den 14. Dezember 1901. Großherzoglicher Bürgermeister Stöpler“.

Die Pauschalbezieher (bis drei Lampen) zahlten jährlich 18 Mark wenn sie sechzehnkerzige und zwölf Mark, wenn sie zehnkerzige Lampen zum Leuchten brachten. Die Zählermiete schwankte zwischen 0,65 bis 1,50 Mark im Monat. Die Technik wurde in der Kreisstadt so gut angenommen, dass die Stadtwerke im Jahr 1902 der die Zählermiete abschaffte – den Strompreis für die Kilowattstunde allerdings von 45 auf 50 Pfennige erhöhte.

In seinen Bemühungen Lauterbach an neuen Erfindungen endlich teilhaben zu lassen, hatte der Bürgermeister bestimmt auch die Nachbargemeinde Blitzenrod im Blick.

Denn hier wurde schon 1884 der elektrische Strom in die Häuser gebracht – sie war die erste Gemeinde im Großherzogtum Hessen die über elektrisches Licht verfügte.

Die Firma Wegener war 1884 von Hamburg-Altona nach Lauterbach umgezogen, weil hier die Möglichkeit bestand genügend Arbeitskräfte zu finden und für die Produktion des Betriebes eine eigene Stromerzeugung aufzubauen.

Dank der Umsichtigkeit und Bereitschaft der Hutfabrik Wegener eine Turbine für die Stromerzeugung der Firma anzuschaffen gelang es gleichzeitig die noch selbständige Gemeinde Blitzenrod – die damals allerdings schon mehr als aus sieben Häusern bestand und 110 Einwohner zählte – mit der nötigen elektrischen Energie zu versorgen. Glücklicherweise stand durch einen Nebenarm der Lauter die nötige Wasserkraft zur Verfügung. Seit 1885 bis zum heutigen Tag wird hier umweltfreundlicher Strom erzeugt und seit einigen Jahren in das öffentliche Netz eingespeist. Otto Winterholler

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